Bindungstheorie

Jeder Psychotherapeut arbeitet mit einem oder mehreren Modellen (z.B. Bindungstheorie, Objektbeziehungstheorie usw.), um einerseits den Klienten/Patienten in seinem Leid besser verstehen zu können, andererseits, um daraus seine Bedürfnisse zu erkennen und den für ihn geeigneten Behandlungsansatz zu konstruieren.

Die Bindungstheorie (entwickelt von dem englischen Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby) besagt, dass Menschen lebenslang – aber insbesondere in den ersten 18 Lebensmonaten – das universelle Bedürfnis besitzen, ein „enges affektives Band“ zu anderen Menschen (in der Kindheit auch „Pflegepersonen“: darunter werden allgemein die ersten Bezugspersonen wie die Mutter und der Vater verstanden) herzustellen, welches Schutz und Geborgenheit, so wie einen „sicheren Hafen“ (Bowlby) als Basis für die Exploration der Welt bietet. Dabei meint „enges affektives Band“ enge emotionale und langandauernde Bindungen zu Personen, die nicht ohne weiteres ausgetauscht werden können. Dieses „enge affektive Band“ ist deshalb so wichtig, weil es immer dann in Anspruch genommen werden kann, wenn eine Person (in der Kindheit meist das Kind) in der Beziehung das Ausmaß einer emotionalen Belastung (Furcht, Trauer, Wut, Verunsicherung, Fremdheit etc.) als so schwerwiegend erlebt, dass sie es für nicht mehr selbständig regulierbar hält und so die körperliche und psychische Unterstützung des anderen braucht und sucht. Der Mensch lernt also in diesem „Bindungssystem“, seine Gefühle zu regulieren. Die hieraus resultierenden frühen Bindungserfahrungen mit seinen Eltern führen beim Kleinkind zur Bildung „innerer Arbeitsmodelle“, die es später als größeres Kind, Jugendlichen und Erwachsenen auf neue Beziehungen (z.B. Partner) überträgt.

Unter „innere Arbeitsmodelle“ ist die ganze Bandbreite an Beziehungserfahrungen mit den primären Bezugspersonen und den dazu gehörigen kindlichen Reaktionsmustern zu verstehen, wobei die Betonung eindeutig auf dem Erlebten, den Emotionen (Affekte) liegt. Dieses Erleben wird später unbewusst als die Grundlage einer „normalen Beziehung“ gedeutet und bewertet. Also entspricht einem inneren Arbeitsmodell eine Anleitung oder ein Lehrbuch mit dem Titel: „wie gehe ich mit meinem Partner in einer Beziehung um, wie geht er mit mir um und wie fühlt es sich dabei für mich richtig an?“.

Innere Arbeitsmodelle führen in ihrer Gesamtheit (einschließlich ganzer Beziehungsepisoden) zu verschiedenen Bindungsstilen, die sich durch Verhaltensbeobachtungen in der sogenannten „Fremde-Situation“ aufdecken lassen (bei Erwachsenen lässt sich durch das sogenannten Adult Attachment Interview (AAI) ebenfalls der Bindungsstil feststellen). Unter dem „Fremde-Situation-Test“ (Mary Ainsworth) ist eine künstlich geschaffene Versuchsanordnung zu verstehen, bei der die kindliche Reaktion auf die Trennung von der Mutter und die Wiedervereinigung beobachtet wird. Untersucht werden dabei Kinder bis zum 18. Lebensmonat. Der Ablauf ist ungefähr folgender: in einer unvertrauten Umgebung (z.B. im Wartezimmer einer Praxis) mit einer fremden Person lässt die Mutter ihr Kind im Raum allein zurück. Die kindlichen Reaktionen auf die Trennung und die Wiedervereinigung werden zu folgenden Bildungsstilen zusammengefasst (Bindungsverhalten des Kindes und zugeordnetes mütterliches Verhalten): (in Klammern die Häufigkeit in einer Population, z.B. den Deutschen)

- sicher gebunden (50-60%): Kummer wird deutlich ausgedrückt; lässt sich nicht von Fremden trösten; freut sich deutlich, wenn die Mutter wieder kommt; die Belastung ist durch die Rückkehr der Mutter verschwunden; das Kind kann sein Explorationsverhalten fortsetzen. → Mütterliches Verhalten: feinfühlige Wahrnehmung und Beantwortung von Signalen des Kindes, das heißt a) Signale wahrnehmen, b) Signale richtig interpretieren, c) prompt und angemessen reagieren

- unsicher vermeidend (20-25%): zeigt keinen Kummer; exploriert den Raum („als ob nichts wäre“); beachtet die Mutter bei Rückkehr nicht; scheint „gefühllos“; starke physiologische Belastung nachweisbar (Cortisolspiegel hoch). → Mütterliches Verhalten: Zurückweisung des Bindungsverhaltens des Kindes; Abneigung gegen körperlichen Kontakt; Rückzug, sobald das Kind traurig wird → das Kind verhält sich „adaptiv“, um sich vor weiterer Enttäuschung zu schützen (der Cortisolspiegel ist hier noch höher als bei den unsicher ambivalent gebundenen Kindern)

- unsicher ambivalent (20-25%): lautstarker, wütender Protest bei Trennung; ambivalente Reaktion auf Rückkehr der Mutter (drückt sich an die Mutter, stößt sie im nächsten Augenblick wieder zurück); starke, sichtbare Stressreaktionen (z.B. weint unaufhörlich, lässt sich nicht mehr beruhigen); Fokus auf der Mutter. → Mütterliches Verhalten: Unsensible Reaktion auf Signale des Kindes; unvorhersehbare Ermutigung oder Unterdrückung von Autonomie des Kindes; widersprüchliches Verhalten → der Fokus auf der Mutter bleibt erhalten, das Kind kommt „nicht zur Ruhe“

- desorganisiert/desorientiert (5-10%): widersprüchliche Verhaltensmuster; fraktionierte Kommunikation (gibt eher Laute als Wörter von sich); unterbrochene Bewegungen; abnorme Körperhaltungen (verdreht Extremitäten, überstreckt Kopf und Nacken, Hände, Arme, schlägt mit dem Kopf oder andere Körperteile auf den Boden etc.). → Mütterliches Verhalten: Gefahrenquelle geht genau von den Eltern aus → 80 % der misshandelten Kinder gehören in diese Kategorie

Bindungsstile bleiben zwischen 68-75% über das Leben hinweg (Längsschnittstudien belegen das) konstant. Generationsübergreifend zeigen Eltern und ihre Kinder in 66%-82% den gleichen Bindungsstil. In klinisch unauffälligen Gruppen zeigen 50-58 % der Personen einen sicher gebundenen Bindungsstil. In Stichproben mit klinisch auffälligen Personen findet man dagegen nur 9-13 % sicher gebundene Individuen.

Bindung und gesellschaftliche Entwicklung: In dieser Hinsicht ist meine untenstehende Hypothese zu überprüfen, inwiefern der zunehmende Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung mit dem in der Gesellschaft größer werdenden Mangel an affektiven Bindungen einhergeht. Wie wir wissen, nimmt in Gesellschaften mit zunehmenden Wohlstand die Bereitschaft ab, für einander da zu sein und einzustehen.

Hypothese: die durch den Reichtum der Gesellschaft entstehende Tendenz, mehr Individualität zu leben, weg von der Gemeinschaft, im Sinne des „Fort-Schritts“ („aus der Gemeinschaft fort schreiten“, zur Individualität), in der Autonomie und Unabhängigkeit propagiert wird, nimmt einerseits das Angewiesensein auf den anderen ab, andererseits nimmt aber die Sehnsucht (beachten Sie hierbei den Wortteil „sucht“ von „suchen“) nach jemanden, dem man vertrauen kann, dessen Nähe man braucht, zu. Und zwar im Sinne emotional haltender, fördernder und/oder gewährender Unterstützung.

Sigmund Freud sprach sich für das allgegenwärtige Dilemma „Abhängigkeit versus Autonomie“ aus. Dabei hatte der Begriff der Abhängigkeit von Anfang an einen eher bitteren Beigeschmack. Viele lehnten den Begriff deshalb ab, weil wir Menschen ja bestrebt sein, autonomer zu werden und eben nicht abhängiger. Ich denke aber gerade in dem o.g. Zusammenhang passt der Begriff der Abhängigkeit sehr gut: ja, wir suchen alle Abhängigkeit, nicht nur, weil wir sie dringend brauchen (um z.B. wertgeschätzt zu werden), nicht nur um unsere Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit und Nähe zu befriedigen, vor allem, um unser größtes Bedürfnis nach Mitteilung und Bestätigung (s. S. Mentzos, Psychoanalytiker) nachzukommen.