Etwa die Hälfte der sich in meiner psychotherapeutischen Behandlung befindenden Klientel zeigt einen unsicher-vermeidenden Bindungsstil. Dieser Bindungsstil ist gekennzeichnet durch eine klassische Erwartungshaltung, nämlich der Gewissheit, in seinen Wünschen und Bedürfnissen letztendlich immer wieder enttäuscht zu werden. Diese Erwartungshaltung erwächst aus den Erfahrungen als Kind mit den primären Bezugspersonen (meist Mutter und Vater). Vor allem sind es die sich stetig wiederholenden frustrierenden Bindungserlebnisse, die das Kind in der Beziehung zum Objekt (jede Person, die dem Kind gegenübertritt wird als Objekt bezeichnet) zu vielfältigen Anpassungsprozessen zwingt. Primäre Bedürfnisse des Kindes nach Halt, Schutz, Geborgenheit, Zuwendung und Fürsorge sowie einer angemessenen emotionalen Antwort verlangen eine ausreichend erkennbare Reaktion durch die Fürsorgeperson/en. Dabei sind Kinder in ihrer Bedürftigkeit sehr unterschiedlich, sodass die primären Objekte unterschiedlich stark gefordert sein können. Wenn diese Bedürftigkeit nicht erkannt und damit nicht ausreichend befriedigt wird, kann sich bei häufigen Wiederholungen ein Gefühl der Enttäuschung manifestieren. Wie wir heute wissen, stellt die Enttäuschung DAS zentrale Element der unsicher-vermeidenden Bindung dar. Genauer gesagt: der Schmerz der Enttäuschung, weil der Säugling frustrierende Erfahrungen primär körperlich erlebt, eine mentale Instanz für das Gefühl der Enttäuschung noch nicht existent ist. Erst mit zunehmendem Alter gewinnt das Kind eine Vorstellung über seine Verfassung, wenn es enttäuscht wird.

Exkurs: insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren-teilweise aber auch bis in die achtziger-war es durchaus gängig, Kinder schreien zu lassen, um sie zu erziehen und/oder deren "Lungen zu kräftigen“. Es galten überwiegend noch die Erziehungsmethoden von Johanna Haarer (der nationalsozialistischen Erziehungsideologin. Ratgeber: "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind ", "Unsere kleinen Kinder" usw.). Wir wissen heute, dass durch diese Art der Kindheitspflege, bei manchem Kind großer Schaden angerichtet wurde.

Die Enttäuschung primärer Bedürfnisse hat-wie oben bereits erwähnt-vielfältige Anpassungsprozesse zur Folge, in deren Rahmen das Kind die Wiedererlangung seiner inneren Homöostase forciert. Säugling und Kleinkind haben zwar noch keine bewussten Vorstellungen über eine Beziehung, doch implizit „weiß es“ von seiner Abhängigkeit von den Fürsorgepersonen. Frustration, Ohnmacht und schließlich Resignation führen zur Anpassung (Adaption) an die primären Bezugsperson/en. Dabei kommt es bereits früh im kindlichen Gehirn zu Veränderungen in den neuronalen Verschaltungsmustern. Motor dieser Prozesse stellen alle Faktoren, die in der Bindung zu Stress führen können, dar. Dabei spielt das Cortisol (dem Cortison ähnlich) der Nebennierenrinde eine bedeutende Rolle. Es sorgt durch Einflussnahme auf die neuronalen Verschaltungen sowie auf bestimmte Zentren des Gehirns dafür, dass es zur Modifikation der Verknüpfungen von Nervenzellen kommt, die normalerweise den Schmerz, aber auch den Antrieb generieren. Doch nicht nur das Cortisol als ein Faktor der hormonellen Steuerung, auch das vegetative Nervensystem durch seinen erhöhten Sympathikotonus (Ungleichgewicht zugunsten des Sympathikus) wirken bei Stress auf höher gelegene Hirnzentren. Dies hat bisweilen zur Folge, dass Klienten als unsicher-vermeidende Bindungspersonen kein Gespür mehr für ihre vielen, sich wiederholenden und erlebten Enttäuschungen entwickeln. Obwohl die Sensorik unauffällig erscheint, wirken diese Klienten so, als ob ihnen das Instrumentarium (oder der „Werkzeugkasten“) für die Detektion des Gefühls der Enttäuschung fehlt. Sie „überhören“, „übersehen“ oder „überlesen“ ihre Wahrnehmung. Diese durch Hormone und das vegetative Nervensystem in Gang gesetzten Anpassungsprozesse führen zu Veränderungen der Struktur des Gehirns. Nicht nur im Sinne des neuronalen Verschaltungsmuster bestimmter Hirnzentren, sondern-und vor allem-des genetisch mitgelieferten und erlernten „mentalen Werkzeugkastens". Das Instrumentarium, mit dem der Mensch sich den äußeren Erfordernissen und inneren Bedürfnissen stellen muss, um das immer wieder in Unruhe geratene innere Gleichgewicht, die Homöostase, wiederherzustellen. Um diese durch Anpassungsprozesse in Gang gesetzten Veränderungen standardisiert zu erfassen wurde ein Fragebogen entwickelt, der bestimmte Fähigkeiten (ich nenne sie „Werkzeuge“ des Werkzeugkastens), die der Mensch in seiner frühsten Lebensperiode entwickelt/erlernt, erfasst.

Der Werkzeugkasten (strukturelle Fähigkeiten). Hierzu zählen:

1)die Selbstwahrnehmung

2)die Objektwahrnehmung

3)die Selbststeuerung/Selbstregulierung

4)die Regulierung des Objektbezugs

(u.a. Interessenausgleich in Beziehungen, Schutz der Beziehung, Nähe-Distanz)

4)die emotionale Kommunikation nach innen

(u.a. Gefühle erleben (Affektwahrnehmung), Fantasien nutzen)

5)die emotionale Kommunikation nach außen

(u.a. Einfühlungsvermögen (Empathie), Mitteilung von Gefühlen (Affektmitteilung))

6)die Bindung nach innen (u.a. Integration von Aspekten früher Bindungspersonen)

7)die Bindung nach außen (u.a. Bindungsfähigkeit einschätzen, Hilfe annehmen)

(Alternative Einteilung der strukturellen Fähigkeiten bei unterschiedlichen Autoren möglich)

Individuen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil haben bereits in frühester Kindheit als die für sie am besten geeignete Strategie erlernt, sich dem Gegenüber/dem Anderen/dem Objekt anzupassen (Adaption). Entsprechend haben sie ihren „Werkzeugkasten“ modifizieren müssen. Generell haben sie dem Objekt mehr Rechte zugeschrieben als sich selbst. Im Bereich der Selbstwahrnehmung zeigen sich häufig deutliche Einschränkung im Bereich der Unterscheidung zwischen Gefühlen (Affektdifferenzierung), der Selbstreflexion und besonders ausgeprägt der Identität. Entsprechend verhält es sich bei anderen Werkzeugen wie der emotionalen Kommunikation sowie der Bindung. Die in diesem Bindungsmuster enthaltene Fokussierung auf das Objekt führt dazu, dass die betroffene Person „sich aus dem Auge verliert“. Wenn ich keine Vorstellung von meinem Gefühlsleben noch von meinen Bedürfnissen und Wünschen habe, so ist folgerichtig der Bindungspartner im Fokus. Dies führt fälschlicherweise zu einer Objektwahrnehmung, die selten der Realität entspricht. Der Bindungspartner-das Objekt-wird „überwertig“. Nicht selten werden deswegen die Objekte (insbesondere die Eltern) entweder idealisiert oder entwertet. „Graustufen“ dazwischen werden nicht wahrgenommen. Die emotionale Kommunikation nach außen erscheint vorsichtig und behutsam und entspricht nicht annähernd dem wirklichen Erleben der betroffenen Person. Wird diese gefragt, weswegen sie sich so vorsichtig verhält, zeigen sich häufig Fantasien über Trennungsängste. Diese sind es schließlich auch, die den Blickwinkel an einem sehr bedeutsamen Werkzeug einschränkt: der Empathie (Einfühlungsvermögen). Unsicher-vermeidende Personen behaupten nicht selten, sie hätten ein gutes Einfühlungsvermögen und wüssten deswegen gut, was der Bindungspartner bräuchte. Tatsächlich zeigt sich regelhaft eine deutliche Einschränkung des Einfühlungsvermögens, die dadurch begründet ist, dass die betroffene Person Empathie und Identifikation verwechselt. Der unsicher-vermeidenden Bindungsstil bringt nicht selten die betroffene Person dazu, sich mit seinem Bindungspartner zu identifizieren, mit dem Ziel, seine Wünsche „von den Lippen ablesen zu können“. Empathie setzt allerdings die Fähigkeit, das Werkzeug, voraus, sich als gleichberechtigte Beziehungspartner „auf gleicher Augenhöhe“ zu begegnen. Dies ist bei Individuen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil eher selten, die Beziehung ist häufig komplementär (heißt: sie beruht nicht auf Gleichheit, sondern Unterschiedlichkeit in Anlehnung zur „komplementären Kommunikation“ nach P. Watzlawick. Näheres https://lexikon.stangl.eu/12301/komplementaere-kommunikation ). Um dem Gefühl der Leere zu entgehen, findet sich nicht selten ein „klammerndes“ Verhalten in Beziehungen. Das Gefühl der Leere liegt häufig darin begründet, dass die betroffene Person zu wenig positives Beziehungserleben erfahren hat. Positive Beziehungserfahrungen sind allerdings der Schlüssel dazu, um in Notsituationen (unter Stress) auf sinnvolle, angemessene und erfolgversprechende Lösungen zurückgreifen zu können.

Der unsicher-vermeidende Bindungsstil hat natürlich auch Konsequenzen für die Beziehung zwischen Klient und Therapeut. Da der Psychotherapeut im Gegensatz zu anderen (zum Beispiel zum Bindungspartner des Betroffenen) die oben genannte klassische Erwartungshaltung kennt, kann er adäquat auf die mit diesem Bindungsstil verbundenen Glaubenssätze reagieren und intervenieren. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Therapie ist vor allem in der Bewusstwerdung der Enttäuschungen und der damit verbundenen (seelischen) Schmerzen sowie die Aufdeckung aller Mechanismen, die der Klient (unbewusst) dafür einsetzt, um nicht von seinen Anpassungsleistungen/Glaubenssätzen lassen zu müssen, zu finden.