Es gehört nicht zum Kulturgut in unserer Gesellschaft, dass jeder erwachsene Mensch für die Äußerung und Befriedigung seiner Bedürfnisse selbst verantwortlich ist. Jetzt werden Sie (erstaunt oder empört) fragen: Wieso? Ist doch selbstverständlich, dass wir für die Befriedigung unserer Bedürfnisse selbst verantwortlich sind! Ja, ist es das -frage ich Sie-, oder meinen wir nur, das es so wäre?

Um kurz einem Missverständnis vorzubeugen: es geht hier nicht um Bedürfnisse im Sinne von Trinken, Essen oder Schlafen.

Warum hake ich so kritisch nach?

Sie kennen alle, wie leicht wir unsere Mitmenschen für alles mögliche verantwortlich machen und wie gern wir anderen die Schuld geben: "weil der vor mir so langsam fährt, komme ich wieder zu spät zur Arbeit", "wenn der Kollege sich mal waschen würde, würde mir meine Arbeit auch wieder Spass machen", "weil der Patient kein Deutsch versteht, braucht der Arzt wieder so lange und ich muss warten", "weil der Chef so übellaunig ist, muss ich wieder länger arbeiten", "weil ich keinen Termin beim Arzt bekommen habe, hat sich der Zeh erst richtig entzündet", "weil sich meine Geschwister nicht verstehen, kann ich sie nicht gleichzeitig zu meiner Feier einladen", (weitere Beispiele im vierten Absatz)

Also noch mal meine Frage!

Es geht also um...

  1. Bedürfnisse wie Kontakt, Verbindung, Anerkennung, Wahrgenommenwerden, Authentizität, Struktur, Ordnung, Verständnis usw. (eine Liste, welche Bedürfnisse es alles gibt, finden sie unten)

  2. Und es geht darum, ob wir unsere Bedürfnisse wahrnehmen und Verantwortung für unsere Bedürfnisse übernehmen, indem wir sie anderen gegenüber zeigen.

  3. Schließlich geht es darum, wertfrei die eigenen Bedürfnisse und die des anderen zu akzeptieren.

Beispiel: Sie und Ihr Partner streiten sich. Ihr Partner wirft ihnen vor, "wiedermal" nicht pünktlich gewesen zu sein. Sie hingegen entgegnen, Ihr Partner sei "zu kleinlich", es sein nur "paar Minuten".

Nun, um was geht es hier eigentlich? Nicht darum, dass einer "wiedermal" Schuld hat und der andere sein Recht. Auch nicht, dass der eine nachgibt oder der eine es dem anderen rechtmacht. Nein! Es geht hier um einen Beziehungskonflikt auf Basis unterschiedlicher Bedürfnisse und deren Gewichtung. Ihrem Partner z.B. kann Pünktlichkeit, Genauigkeit oder Ordnung das wichtige Bedürfnis in der Auseinandersetzung sein, Ihnen z.B. die eigene Wahl, Spontanietät oder auch Flexibilität. So treffen hier unterschiedliche Bedüfnisse aufeinander und suchen nach Befriedigung. Dafür soll nun der andere geradestehen? Und wie Sie sehen, ist dazu primär keiner bereit!

GLEICHZEITIG trägt jeder von beiden streitenden Parteien auch die Bedürfnisse des anderen in sich (Ihr Partner wünscht sich ein andermal auch freie Wahl und Flexibilität, Sie sich Ordnung und Genauigkeit. Nur diese stehen IM AUGENBLICK nicht im Vordergrund. Sie können aber zu einem anderen Zeitpunkt bei Ihnen im Vordergrund stehen).

Mitgekommen?

Ihr Partner kann ihnen in einem anderen Fall genau das entgegen werfen, was er in diesem Fall für sich in Anspruch genommen hat (Ihr Partner wirft ihnen Zwanghaftigkeit vor und Sie ihm Willkür).

Sie sehen, hier hat keiner "recht" bzw. ist jemand "schuld". Hier haben zwei Menschen unterschiedliche Bedürfnisse.

Nun aber zum zweiten Punkt: Ist/Sind Ihnen Ihr/e Bedürfnis/se in diesem Konflikt klar? Nehmen Sie diese wahr? UND können Sie in diesem Streit nun auch Position für IHRE Bedürfnisse beziehen? Heißt, können Sie im o.g. Beispiel für ihre BedürfnisseVerantwortung übernehmen und vermitteln, dass Ihnen im Augenblick andere Bedürfnisse als die Ihres Partners wichtig sind? Oder ziehen Sie sich grummelnd zurück ("mit so einem Mist beschäftige ich mich nicht" oder "Du hast Recht und ich meine Ruhe") oder greifen Sie gar an ("du mit deinem Genauigkeitswahn....").

Hand auf`s Herz, die meisten werden sagen: schwierig. Ja, genau, das ist es. Und zwar deswegen, weil wir es nicht gelernt haben. Gelernt haben wir, dem anderen Vorwürfe zu machen, denn der hat "gefälligst" für die eigenen Bedürfnisse gerade zu stehen. Also: wir wissen gar nicht wie das geht: Über Bedürfnisse zu reden. Wir wissen, wie wir dem anderen Vorwürfe machen. Und wir haben nicht gelernt Hinzuschauen! Hinzugucken, wie es MIR geht und WAS ich gerade brauche.

 

Ursache (Hypothese): In der Kindheit lernen wir in erster Linie die Bedürfnisse der Eltern zu befriedigen. "Sei leise, Papa braucht Ruhe", "iss auf, sonst gibts keinen Sonnenschein", "sag der Mama was Liebes, dann ist sie nicht mehr traurig", "wenn du nicht lernst, wirst du nichts", "Mama möchte einen Jungen mit so einem Gesicht nicht sehen", "nur liebe Kinder kriegen ein Eis"... Die Liste ließe sich ins Endlose verlängern. Sie kennen das alle. Wir lernen in der Kindheit, "Bedürfnisbefriediger" unserer Eltern zu werden. Wir lernen es, zunächst den Eltern rechtzumachen, dann den Erziehern im Kindergarten, dann den Lehrern in der Schule, dann dem Chef im Betrieb usw. Aus Liebe. Aus Liebe zunächst zu den Eltern. Dafür -MEINEN wir-, gehen unsere Erziehungsberechtigten mit uns gut um und kümmern sich um uns. Jedes Kind wünscht sich die Liebe von Mutter und Vater bzw. den primären Beziehungspersonen. Und deswegen macht es das. Was? Seine Bedürfnisse hinter die Bedürfnisse der Eltern, dann den Erziehern, dann den Lehrern, dann den Vorgesetzten usw. zu stellen! In der Folge verlernen wir wahrlich, hinzuschauen, was WIR wollen.

 

Gott sei Dank entwickeln wir uns. Und mit jedem Entwicklungsschritt erleben wir mehr Freiheit. Mehr Freiheit bedeutet jedoch auch mehr Verantwortung übernehmen. Und das führt uns zum nächsten Dilemma. Einerseits möchten wir unser "Ding machen", andererseits brauchen wir und wünschen wir uns noch "Zugehörigkeit" (zur Mutter, Familie, Partner..). Jeder von uns hat diese Schritte selbst erlebt, sozusagen "hautnah". Haben wir Eltern, die uns wohlwollend dabei unterstützen, ist das hilfreich. Manchmal aber stehen uns die Eltern gerade in diesen Phasen der Entwicklung im Weg: die ängstliche Mutter z.B. kann nicht loslassen und erlebt die zunehmende Selbständigkeit des Kindes als Bedrohung und weist diesem Schuldgefühle zu. Der depremierte Vater erlebt die Loslösung des Kindes als Entwertung und entzieht dem Heranwachsenden jede Unterstützung. Auch diese Liste ließe sich fortsetzen.

 

In der erwachsenen Welt denken wir genauso wie einst die eigenen Eltern: der andere ist verantwortlich für meine Bedürfnisse. Wenn wir so denken, dann geben wir die Verantwortung ab. Dann sind wir zwangsweise machtlos, hilflos, fühlen uns ausgeliefert: "weil meine Frau so krank ist, kann ich mir keine Pause leisten", "weil mein Chef so viel verlangt, leide ich an einem Burn-out", "weil der Lehrer die falschen Fragen stellt, bekomme ich keine gute Note", "weil du mich verlassen hast, nehme ich mir das Leben", "weil du mich angeschrien hast, kann ich jetzt nicht schlafen" usw.

Dieses Denken ist vollkommen verquer! Wir erwarten, dass der andere unsere Bedürfnisse (die wir teilweise gar nicht selber wahrnehmen noch kennen) 1) erkennt und dann 2) zufriedenstellt. Damit kommen dem Gegenüber zwei Schuldzuweisungen zu: erstens muss der andere meine Bedürfnisse erkennen und zweitens auch befriedigen. Das diese Erwartungen frustriert werden, liegt wohl auf der Hand. Und trotzdem tun wir es.

 

Nun ist es aber nicht nur so, dass unterschiedliche Menschen eine unterschiedliche Gewichtung ihrer Bedürfnisse haben. In jedem in uns, sind diese Bedürfnisse ständig im Wettstreit. So kann das Bedürfnis nach Rückzug genauso vorhanden sein wie das Bedürfnis nach Kontakt. Der Mensch ist dann selbst uneins. Auch kann dieser Konflikt unter den Bedürfnissen einige Minuten später gar nicht mehr vorhandensein oder es ist umgekehrt.

 

Grundlage ist, das Problem als solches zu erkennen ist, dass wir überhaupt unsere Bedürfnisse in uns wahrnehmen. Und da fängt das eigentliche Problem richtig an. Denn wir haben erstmals an unseren primären Bezugspersonen Bedürfnisse kennengelernt. Und zwar die, des anderen, nicht unsere eigenen. Es wundert mich deswegen nicht, dass es viele geben wird, die erstmal stutzen und irritiert sind über die zahlreichen unten aufgeführten Bedürfnisse – die wir Menschen ALLE übrigens in uns tragen!

 

Wie also die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen?

Der Pfad, der uns dort hinführt geht über unsere Gefühle. Gefühle oder auch Emotionen kennt jeder von uns. Diese Gefühle zeigen sich, wenn (ein) Bedürfnis/se in uns unerfüllt ist/sind: traurig, betrübt, zornig, ärgerlich, wütend, enttäuscht, frustriert, hilflos, ohnmächtig, rastlos, panisch, schockiert, angespannt sein. (eine Liste ist auch unten aufgeführt)

Aufgepasst: Wut ist häufig ein Deckgefühl, hinter diesem steht das eigentliche Gefühl: meist Trauer, Enttäuschung oder Frustration.

Nun tritt so ein Gefühl bei Ihnen auf. Was ist der nächste Schritt?

Schauen Sie nach, welches Bedürfnis derzeit NICHT erfüllt ist. Dabei ist entscheidend, die bestmögliche Beschreibung des Bedürfnisses zu finden.

Zum Beispiel: Sie sind auf einer Party, mit der Zeit bekommen Sie Bauchschmerzen und Sie ärgern sich. Hinter dem Ärger entdecken Sie, dass Sie unglücklich sind und eigentlich nicht auf die Party hätten gehen wollen. Sie hatten das Bedürfnis, allein zu sein. Oder doch Ruhe haben zu wollen? Oder Stille? Oder Frieden?

Mit der Antwort auf ihre eigene Frage lösen Sie in den meisten Situationen bereits den Knoten im Bauch. Ihnen ist nun klar, dass Sie Stille haben wollten, aber weil ihr Partner Sie so sehr bekniet hatte, mitzukommen, sind Sie doch auf die Party gegangen.

Ist Ihnen auch klar, weswegen Sie das für Ihren Partner gemacht haben? Sollte es! Sie haben sich auf diese Art ein anderes für Sie wichtiges Bedürfnis erfüllt: das Bedürfnis nach Verbindung oder Harmonie mit ihrem Partner.

Sie sehen, dass es doch komplizierter ist, als Sie erwartet haben?

Macht nichts. Bedürfnisse sind immer in uns im Konflikt. Allerdings führen äußere Ereignisse (z.B. die Aussage Ihres Chefs zu Ihrem Arbeitsverhalten oder eine Aufforderung durch Ihren Partner) zu einem Ungleichgewicht in IHNEN. Sie sind nun für sich und dafür verantwortlich, wieder ins Lot zu kommen. Dies geschieht in aller Regel durch die Auseinandersetzung mit (einem) anderen Menschen.

 

Was gibt es zu gewinnen?

Folgen der Auseinandersetzung über die eigenen Bedürfnisse sind 1) Sich besser kennenzulernen und sich besser wahrzunehmen 2) möglicherweise auch verbunden mit einem Gefühl "auf dem richtigen Pfad zu sein" 3) mit einem "aha" Effekt, d.h. mit einer Erkenntnis verbunden. Dies bedeutet auch immer Entwickung und Reifung. Und wo Entwicklung geschieht, zeigt sich ein Gefühl von Freisein.

 

Haben Sie Fragen, sprechen Sie mich an!

 

 

 

Gefühle, die wir haben, wenn Bedürfnisse in uns Unerfüllt sind:

 

aggressiv, angespannt, alamiert, ängstlich, apathisch, ärgerlich, bedrückt, besorgt, betrübt, chaotisch, deprimiert, erschöpft, erschreckt, frustriert, gleichgültig, hektisch, hilflos, irritiert, konfus, leer, lustlos, machtlos, missmutig, müde, nervös, ohnmächtig, panisch, passiv, rastlos, ratlos, schockiert, schwer, sentimental, unbehaglich, unglücklich, trübsinnig, unruhig, unischer, verzweifelt, wehmütig, widerwillig, zaghaft, zornig... usw.

 

Bedürfnisse:

 

Aktivität, Akzeptanz, Alleinsein, Aufmerksamkeit, Authenitzität, Austausch, Autonomie, Beherrschung, Bewegung, Begegnung, Besinnung, Beständigkeit, Bildung, Effektivität, Einfühlung, Entspannung, Entwicklung, Feiern, Freiheit, Freude, Frieden, Geborgenheit, Gesundheit, Gemeinschaft, Glück, Harmonie, Identität, Initiative, Integrität, Inspiration, Intensität, Kongruenz, Kontakt, Kontrolle, Kreativität, Liebe, Mitgefühl, Macht, Nähe, Originalität, Ruhe, Rückzug, Selbstbestimmung, Sicherheit, Sinn, Schutz, Sexualität, Spiritualität, Unterstützung, Vertrauen, Verantwortung, Verbundenheit, Wertschätzung, Zugehörigkeit... usw.