„Ich bilde mir das doch nicht ein, Herr Doktor!“, „Darauf kannst du dir jetzt etwas einbilden!“, „Einbildung ist auch eine Bildung!“. Diese Sätze beschreiben eher unsere negative Einstellung zu dem Phänomen „Einbildung“
. „Natürlich“ bilden wir uns nichts ein, schließlich sind wir der Überzeugung, dass wir das, was wir wahrnehmen, der Realität entspricht. Aber unter uns: Dabei liegen wir voll daneben! „Aber Hallo! Aber sowas von!“, würde jetzt Horst Evers-ein Komiker, der schon viele lustige Bücher geschrieben hat-sagen (übrigens sehr zu empfehlen).
Unsere Wahrnehmung ist nämlich-wie soll man sagen-unsere eigene Sichtweise auf die Geschehnisse und Eindrücke der Welt. Negativ ausgedrückt: wir haben in unserer Wahrnehmung deutliche „Macken“. Dies fängt bereits schon bei der Sensorik an. Darunter verstehe ich die 5 Sinne: Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Fühlen (Tastsinn). Nehmen wir zum Beispiel das Sehen:
3 „Macken“ sorgen bereits schon bei diesem Sinn für eine Einschränkung einer realistischen Wahrnehmung: 1. der „blinde Fleck“. An der Stelle wo der Sehnerv aus dem Gehirn ins Auge tritt, gibt es keine Sehzellen. In der Folge können wir mit diesem Bereich der Netzhaut überhaupt nicht sehen. Nun fällt uns dieser blinde Fleck im Alltag überhaupt gar nicht auf. Dies liegt daran, dass das Gehirn diesen „Fehler“ wegretuschiert. Sie können gern mal in einem Versuch starten: Gehen Sie ruhig mal auf die Seite
https://lehrerfortbildung-bw.de/kompetenzen/gestaltung/farbe/labor/BlinderFleck.pdf
2. die Sehzellen (oder Sehzeptoren) auf der Netzhaut bestehen aus „Stäbchen und Zapfen“. Am Ort des schärfsten Sehens (Fovea centralis) befinden sich ausschließlich Zapfen. Diese sind für das Farbsehen zuständig. Die viel größere Anzahl von Sehzellen stellen jedoch die Stäbchen dar. Diese jedoch lassen nur den Unterschied zwischen schwarz und weiß und den verschiedenen Grauzonen zu. Tagsüber stellt dies für uns kein Problem dar, da wir mit den Zapfen und damit dem Farbsehen uns ausreichend orientieren können. Mit Eintritt der Dämmerung jedoch, sind die Zapfen nicht mehr in der Lage Farben zu unterscheiden. Die Lichtintensität ist nicht mehr ausreichend. Diesen Fehler behebt das Gehirn dadurch, dass die viel größere Anzahl von Stäbchen aktiviert wird. Nachteil: wir können jetzt mit dem Ort des schärfsten Sehens nichts mehr anfangen, was auch durch ein Selbstversuch gut dargestellt werden kann. Sie werden feststellen, dass sie im Dunkeln sich besser orientieren können, wenn sie ihr Ziel nicht direkt fixieren, sondern ein Stück daneben schauen. Dadurch vermeiden Sie einen weiteren „blinden Fleck“, der durch die Unfähigkeit des Sehens über die Zapfen im Dunkeln entsteht.
3. wenn wir abends im Zimmer das Licht anmachen, so haben wir den Eindruck, dass die Lampe durchgehend dieses Licht aussendet. Aber weit gefehlt: aufgrund des Wechselstroms, der den Glühfaden in der Lampe mit Strom versorgt, geht in Wirklichkeit das Licht 50 mal pro Sekunde An und Aus. Dies nimmt jedoch unser Augen nicht wahr, da unsere Sinneszellen im Auge viel zu langsam sind. Sollten Sie jedoch zu Hause einen Wechselstromgenerator haben, können Sie gerne mal folgendes ausprobieren: die Frequenz von 50 Hz so weit reduzieren, bis sie den Eindruck haben, dass das Licht flackert. Der Punkt, wo Sie das 1. Flackern wahrnehmen, entspricht der Verarbeitungsgeschwindigkeit ihrer Sinneszellen im Auge. Hier werden sie im übrigen ein Unterschied zwischen Stäbchen und Zapfen feststellen: die Stäbchen arbeiten langsamer, weshalb sie nur beim direkten Hinsehen in das Licht das 1. Flackern wahrnehmen.
Zum Beispiel das Hören: Sie kennen das alle. In einem absolut stillen Raum hören Sie trotz Fehlen jeglicher Lärmquelle ein ganz feines und leises „Grundrauschen“. Dieses Phänomen entsteht dadurch, dass die Sinneszellen des Gehörs im Innenohr auch ohne Reiz aktiv sind. Wichtig ist, dass das Hören auch im Zustand des Schlafes „online“ ist. Im Gegensatz zu den anderen Sinnen bleibt das Gehör also „wach“.
In einem Versuch mit mehreren Probanden zeigte sich außerdem folgendes Phänomen: nachdem die Versuchspersonen jeweils in einen weitestgehend reizlosen Raum (absolut dunkel, still) eingeschlossen waren, entwickelten diese innerhalb einer bestimmten Zeit akustische und optische Halluzinationen (sie hörten oder sahen Dinge, die nicht existierten). Dies wurde so interpretiert, dass unser Gehirn dauerhaft Reize benötigt, um korrekt zu funktionieren.
So ist der Tinnitus letztendlich auch kein objektivierbares Phänomen, sondern ein meist subjektives Syndrom. Es wird nach derzeitigem wissenschaftlichen Stand dem Phantomschmerz gleichgestellt als Phantomgeräusch. Da es bestimmte neuronale Verbindungen zu den Mandelkernen gibt, die für die Verschaltung von Flucht-, Angst-und Angriffreaktion zuständig sind, wäre es eigentlich korrekt, den Tinnitus zu den affektiven Störungen (also zu den psychosomatischen Erkrankungen) zu rechnen.
Zu diesen „Macken“ der Sinnesorgane gesellen sich nun eine größere Anzahl von Orten im Gehirn, die unsere Wahrnehmung in erheblichem Maße beeinflussen. Da ist vor allen Dingen die Rede vom limbischen System. Neben den Mandelkernen, die ich oben bereits erwähnte, gehören unter anderem der Thalamus und der Hypothalamus sowie die Epiphyse dazu. Hauptaufgabe des limbischen Systems ist die Bewertung und Verarbeitung von Sinneseindrücken und Emotionen mit den Erfahrungen, die ein Individuum in seinem Leben bereits schon gemacht hat.
Die Mandelkerne (Amygdala) spielen dabei die Rolle der „Notrufzentrale“: Hier werden Sinneseindrücke mit den vegetativen Nervensystem verknüpft.
Exkurs: Das vegetative (oder auch autonomes) Nervensystem besteht aus dem Sympathikus und dem Parasympathikus (auch Nervus Vagus genannt). Dabei spielt der Sympathikus die Rolle des „Stressors“ und der Parasympathikus den „Ruhe- oder Pausennerv“. Wir kennen dies alle: eine emotional oder Angst-beladene Situation, „schlechte“ Luft, Hitze oder Schmerzen führen zur Aktivierung des Parasympathikus. In der Folge fällt der Puls, der Blutdruck, uns wird übel, schwach, schwindelig, eventuell „schwarz vor den Augen. Wenn wir uns nicht schnell genug hinlegen, „kippen wir um“ oder werden ohnmächtig. Es entsteht der sogenannte Residualzustand, der im Grunde genommen schlafähnlich ist, bei dem quasi alle Reize von außen abgeschaltet werden. Dies ist ein Notprogramm, was noch aus der Zeit stammt, als wir in der Evolution den Tieren noch viel näher standen. Dieser Residualzustand wird auch dem „Totstellreflex“ aus der Welt der Tiere gleichgestellt. Wissenschaftler gehen davon aus, dass dies auch die ursprüngliche Funktion beim Menschen war.
Der Passivität des Parasympathikus (der vor allen Dingen bei folgenden 3 Tätigkeiten aktiv ist: Essen, Schlafen, Sex) wird die Aktivität des Sympathikus gegenübergestellt: Angriff und Flucht. Puls und Blutdruck steigen, das Sehen und Hören werden in ihrer Empfindlichkeit hoch geregelt, Magen-Darm-Trakt wird „abgestellt“ (wenn der Mensch plötzlich Angst hat, hat er „Schiss“. So wird berichtet, dass Soldaten im Schützengraben bei einem Bombeneinschlag sich spontan entleerten), die Schmerzempfindlichkeit wird runterreguliert, das Blutgerinnungssystem wird aktiviert (zum Schutz vor Verbluten), der Blutzucker steigt und vieles mehr. Auch dieses haben wir aus der Tierwelt.
Zu Recht wird deshalb dieses vegetative Nervensystem auch als primitives Nervensystem bezeichnet. Es beeinflusst uns in erheblichen Teilen unseres gesellschaftlichen Lebens, indem es unsere Wahrnehmung verzerrt.
Wenn die Mandelkerne also die Verknüpfung von Sinneseindrücken mit dem vegetativen Nervensystem darstellen, so reichen scheinbar bestimmte Reize aus, um uns „in Panik davonlaufen“ oder angreifen oder totstellen lassen. Dies führt unter anderen zu dem von Rolf Dobelli bezeichneten „Denkfehler“ „social proof“ (übersetzt: Herdentrieb oder Gruppendruck). Wenn also Menschen panikartig einen Raum verlassen, so ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass sie dies auch tun, auch wenn sie nicht wissen warum. Dieses ist ein Relikt aus unserer sehr entfernten Vergangenheit. Begründung findet dieses Phänomen darin, dass unsere Vorfahren sich die Frage nicht stellen konnten „kommt da ein Tiger oder nicht?“,da sie für den Fall, dass sie stehen geblieben und tatsächlich ein Tiger auf sie zu gelaufen wäre, aus dem „Genpool“ verschwunden wären. Übersetzt heißt das, dass hier bestimmte Handlungen und Reaktionen aufgrund von Erfahrungen der menschlichen Spezies verankert sein dürften.
In unserer sicheren und kopflastigen Gesellschaft führt dies jedoch zu einer bedeutenden Wahrnehmungsverzerrung. In seinem Buch „die Kunst des klaren Denkens“ geht Rolf Dobelli diesem und anderen Phänomenen auf den Leim.
Der Thalamus ist ein weiterer Ort, wo unsere Wahrnehmung beeinflusst wird: er ist quasi der Filter, der zwischen wichtigen und unwichtigen Sinneseindrücken differenzieren soll. Dabei beschreibt wichtig und unwichtig allein die subjektive Bewertung aus den Erfahrungen des Individuums. So liegt es auf der Hand, dass hier bereits schon viele (wenn nicht gar die zentralen) Wahrnehmungsfehler generiert werden. Stellen Sie sich vor, Sie unterhalten sich mit einem Freund/Freundin an einer viel befahrenen Straße. Wenn die Informationen ihres Gegenübers (emotional) wichtig für Sie sind, kann der Lärm von der Straße noch so groß sein, sie werden ihn/sie verstehen. Der Thalamus filtert die Beigeräusche (Lärm durch Straße) zu einen beträchtlichen Teil heraus. Fühlen Sie sich hingegen von ihrem Gegenüber eher gelangweilt oder die Informationen interessieren Sie nicht, werden sie schlecht ihren Thalamus überzeugen können, die Straßengeräusche herauszufiltern.
Der Hypothalamus hat eine direkte Verbindung zu den Hormonachse des Körpers. Durch das Zusammenspiel von den einzelnen Zentren des limbischen Systems werden Reize zum Hypothalamus gesendet, der daraufhin Vorläuferhormone, die die Hypophyse beeinflussen, ausschüttet. So ist das gesamte Nervensystem mit der Hormonachse verknüpft. Sinnesreize, die das Individuum als bedrohlich bewertet, werden hier direkt mit dem vegetativen Nervensystem über die Mandelkerne und mit der Hormonachse über den Hypothalamus verbunden. Hieraus ist auch verständlich, das bei bestehender Ängstlichkeit/Besorgtheit Menschen zum Beispiel „das Gras wachsen hören“ und andere „illusionäre Verkennungen“ erleben. Sie kennen das alle: es wird langsam dunkel, sie sind im Grunde genommen schon müde, und sie müssen ein Stück des Weges alleine durch einen Wald gehen. Mit Betreten des Waldes werden sie plötzlich hellwach, sie hören jedes Knistern, sie spüren ihren Puls, der Schweiß rinnt und dann sehen sie plötzlich „eine Gestalt, die ihnen auflauert“. Da Sie ja ihre Wahrnehmung infrage stellen können („Ach das ist ja nichts“), tun sie dies auch, versuchen so weit wie es geht ihre Angst zu unterdrücken und nähern sich der vermeintlichen Gestalt. Beim Näherkommen fällt Ihnen auf, dass die Nase der Gestalt in Wirklichkeit einem Astabgang des Baumes, das Auge dem Fehlen der Rinde des Baumes in einem bestimmten Abschnitt und das Messer einem dolchartigen Zweig des Baumes entspricht. Sie lachen auf und denken „wie konnte ich nur“.
Sinnestäuschungen-und damit Wahrnehmungsverzerrungen-sind aufgrund dessen, was ich oben beschrieben habe, ein ubiquitäres (also überall vorkommendes), alltägliches und häufiges Phänomen. Wenn Sie also das nächste Mal denken „der sieht das vollkommen falsch“, überlegen Sie sich erst mal, inwiefern Ihre Wahrnehmung Ihnen „ein Schnippchen schlägt“.