In meiner psychotherapeutischen und tiefenpsychologischen Behandlung nutze ich regelmäßig ein ubiquitäres (also überall vorkommendes) menschliches Phänomen in Beziehungen:

das Phänomen der Übertragung.

 

 

Unter Übertragung verstehe ich die Fähigkeit des Menschen, Aspekte von früheren und frühen Beziehungspersonen (meist aus der Primärfamilie) auf aktuelle Beziehungen (also auch in Bezug auf den Therapeuten) zu übertragen. Der Vorgang läuft ungefähr so ab:

Treffe ich das erste Mal auf eine mir fremde Person, findet in Bruchteilen einer Sekunde ein „Informationsprozess“ statt. Da dieses Phänomen jeden Menschen betrifft, kann ich davon ausgehen, dass dies bei der Person mir gegenüber ebenfalls geschieht. Dabei gleicht dieser Informationsprozess einem „Scannen“ des Gegenübers. Den Grund für den Ablauf dieses Prozesses finden wir in der Evolution. Hier musste der Urmensch blitzschnell entscheiden können, ob es sich um Freund oder Feind ihm gegenüber handelt. Angriff und Flucht oder Freude und Umarmung.

 

Bei näherer Betrachtung geschieht bei dem Informationsprozess folgendes: ich vergleiche das Bild des Gegenübers mit den „inneren“ Bildern von mir vertrauten Personen. Dabei geht es nicht nur um den Aspekt, wie jemand „aussieht“, sondern auch wie jemand sich verhält, wie jemand sich anfühlt oder wie ich jemanden erlebe. Dabei kommt es zu einem sogenannten Informationsaustausch! Das Bild des Gegenübers wird mit dem inneren Bild abgeglichen und „inForm“ gebracht. InFormation ist also das in Form bringen von äußeren Aspekten durch innere Bilder.

Das erstaunliche hieran ist, dass das Gegenüber in eine Form gebracht wird, wie es mir recht ist! Dies bedeutet 1., dass jeder Mensch an dem Bild des anderen manipuliert und 2., dass es kein objektives Bild des anderen gibt. Um es platt auszudrücken: was mir nicht passt, wird wegretuschiert, und was fehlt, wird dazu fantasiert. So kommt es, dass wir den einen nicht „riechen“ können oder die „Chemie“ stimmt nicht, mit dem anderen hingegen sind wir schnell per „du“ oder „wir haben uns von der 1. Minute an verstanden“.

Ein unglaublicher Prozess! Eine objektive Wahrnehmung des Gegenübers ist damit überhaupt nicht möglich, andererseits bestätigt dies wieder die enorme Kreativität und Einbildungsfähigkeit des Menschen.

 

Falls Sie nun denken, „ich verstehe nicht“ hier ein Beispiel: Sie kennen gewiss aus ihrer Familie, ihrer Partnerschaft oder aus dem Freundeskreis den Vorwurf/Vorhaltung „du bist ja wie meine Mutter/Vater“ oder subtiler „genau wie mein früherer Freund!“. Derjenige/diejenige, der/die ihnen so etwas gegen den Kopf „donnert“, unterliegt dem Übertragungsphänomen. Und er/sie benennt zusätzlich auch noch die Aspekte, die sie vermeintlicher Weise mit der anderen Person (Mutter/Vater/Partner/Freund) gemeinsam haben.

 

In der tiefenpsychologischen Psychotherapie bekomme ich durch das Übertragungsphänomen verschiedene Rollenzuschreibungen: in mir entdeckt mein Gegenüber seinen Vater, Aspekte der Mutter, den Lehrer, den Partner oder den klassischen Mediziner. Die Anzahl der Aspekte bzw. Rollenzuschreibungen ist nicht begrenzt, wie sie denken könnten. Die Rollenzuschreibung gilt es indes aufzudecken und zu klären.