In meinem ersten Teil des Vortrages über menschliches Versagen habe ich die These aufgestellt, dass die Fehlerhaftigkeit des Menschen kein Zufall ist, sondern eine Notwendigkeit, um sich den Veränderungen einer sich stetig wandelnden Umwelt bestmöglich anzupassen. Dabei verwies ich auf zwei Phänomene, denen sich alle Lebewesen auf diesem Planeten seit Anbeginn der Welt unterwerfen müssen: Evolution und Selektion. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, habe ich dadurch dem Versagen, Scheitern bzw. der Fehlerhaftigkeit eine Bedeutung, einen Sinn gegeben. Ich habe behauptet, dieser sei intentional zu verstehen, also auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, nämlich die optimale Anpassung an die Umwelt. Aus rein deterministischer Perspektive würde ich hingegen anführen, dass die Fehlerhaftigkeit keinen Sinn hat und allein darauf beruht, dass noch nicht alle Fehler - ob körperlich, mental oder emotional - ,die dem Mensch unterlaufen, ausgemerzt sind. In diesem zweiten Fall dürften wir Fehler und Versagen als unnötiges Restrisiko verstehen, dass es gelte, zu beseitigen. Wenn Sie um sich schauen, verstehen die meisten Menschen Versagen genau in diesem Sinne. Es ist deswegen nicht verwunderlich, dass allgemein das Bemühen zu beobachten ist, menschliches Handeln durch zuverlässigere Techniken (zum Beispiel Roboter, Künstliche Intelligenz) zu ersetzen.

In meinem zweiten Teil dieses Vortrages möchte ich auf einen weitere Perspektive der Sinnhaftigkeit von Fehlern hinweisen. Dabei geht es weniger um die Fähigkeit der Anpassung des Menschen an seine Umgebung und den aus Fehlern sich entwickelnden Lernprozess mit neuen Lösungsansätzen, sondern viel mehr um unbewusste Prozesse der Simulation. Dies gilt es nun im Folgenden zu erläutern:

der Mensch befindet sich im Besitz einer einzigartigen Fähigkeit, die wir als Ich-Leistung bezeichnen, die uns die Möglichkeit gibt, Handlungsprozesse im Voraus zu durchdenken: die Antizipation. Die Fähigkeit, eigenes und fremdes Verhalten im Vornherein ein-und abzuschätzen. Dabei benutzen wir einerseits unsere Fantasie, andererseits das Wissen um begrenzte Optionen des menschlichen Verhaltens in bestimmten Situationen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei, wie viel positive Erfahrung das Individuum in Bezug auf Versagen in der Vergangenheit gemacht hat. Positive Erfahrung meint hier, dass Eltern Kindern zugestehen sollten, Fehler zu machen ohne dabei die Beziehung zum Kind infrage zu stellen. Dabei sollten Eltern dem Kind vermitteln, dass Fehler nichts Schlimmes sind, sondern etwas, aus das man lernen kann. Sicher-gebundene Individuen (der Begriff „sicher“ bezieht sich hier auf die Bindungstheorie) können dabei auf einen größeren positiven Erfahrungsschatz zurückgreifen als unsicher-gebundene. Dadurch werden sicher-gebundene Individuen im Gegensatz zu unsicher-gebundenen neue Situation eher erfolgreich - hier im Sinne von korrekt – antizipieren.

Meine Darstellung hier bezog sich zunächst auf einen bewussten Prozess.

Sie sollten allerdings wissen, dass solche Prozesse meist unbewusst ablaufen. Und hier wird es spannend. So wissen wir heute, dass bestimmte sich wiederholende körperliche Vorgänge (Herzrhythmus, Atemrhythmus, Denkprozess etc.) regelmäßig von „Fehlern“ durchzogen sind. Als Beispiel seien „gutartige Herzrhythmusstörungen“ im Sinne von Herzstolpern oder eine plötzliche „Denksperre“ im Sinne von Denkabbrüchen angeführt. Beides kennen Sie! Wissenschaftlich untersucht findet sich kein einziger krankhafter Befund bei den Probanden. Bei jedem von uns Menschen lassen sich regelmäßig „Extrasystolen“ nachweisen. Wer bereits schon einmal ein Langzeit EKG angelegt bekommen hatte, braucht nur auf die Auswertung zu schauen. Diese als „Extra Herzschläge“ zu bezeichnenden Fehler der Herztätigkeit verweisen auf eine vorzügliche Herz-Gesundheit, wissen wir mittlerweile. Die meisten Menschen spüren diese Fehler nicht. Meistens sind es Angstpatienten, die diesen Extra Herzschlägen eine Bedeutung beimessen und so vermehrt durch Lenkung ihrer Aufmerksamkeit auf ihre Herztätigkeit dieses Stolpern spüren (was die Symptomatik übrigens verschlimmert). Auch im Bereich des Denkens passiert es uns regelmäßig: mit einer bestimmten Motivation setzen wir uns in Bewegung (zum Beispiel, etwas aus dem Keller zu holen) und am Ort angekommen, wissen wir plötzlich nicht mehr, was wir wollten.

Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass dies vom Körper gezielt eingesetzte Fehler sind, um die Funktionstüchtigkeit eines Organsystems zu überprüfen. Dabei sei hier auf ein ganz einfaches Beispiel hingewiesen: ob bei der Feuerwehr, Polizei oder Bundeswehr, der Mensch „simuliert“ Notfallsituation. Dabei antizipiert er unter Zuhilfenahme von Fantasie und Erfahrung, welcher Notfall auftreten kann und welche Möglichkeiten bestehen, diesem zu begegnen. Nichts anderes passiert in unserem Körper! Notfallsimulation!

(Kleiner Hinweis: Sie erkennen ein krankes Herz daran, dass es sich keine Fehler im Sinne von Extra Herzschlägen mehr „erlaubt“)

Doch diese unbewussten Prozesse laufen eben nicht nur im körperlichen oder mentalen, sondern eben auch im emotionalen Bereich ab. Es scheint also, dass es hier noch spannender wird. Behauptung: Versagen, Scheitern oder Fehler machen als emotionalen Prozess zu verstehen, eine seelische Notfallsituation zu simulieren, um zu überprüfen, ob die Psyche damit umgehen kann.

Das mag für sie „der Hammer“ und unglaublich sein, ist aber Realität. Als einfachstes und bestes Beispiel hierfür sei unsere Traumtätigkeit angeführt. Meist lange vor einer Handlung (z. B. die Trennung vom Partner oder dem Abschied von einem Sterbenden) „testet“ der Träumende seine emotionale Reaktion und seine Umgangsstrategien mit der erwarteten antizipierten Situation. Wir kennen alle den Gedanken und das erhebende Gefühl „Gott sei Dank, es war nur ein Traum“. Wir kennen auch alle die emotionale Ergriffenheit im Rahmen eines Traumes. Im Traum sind wir meistens sehr emotional. Und der Grund , dass es im Traum passiert, liegt - wie oben bereits erwähnt – darin, einen Notfall zum simulieren. Und dieser ist zeitlich begrenzt und bei Wiedererlangen unseres Bewusstseins abgeschlossen. Unbewusst wird jeder von uns daraus Konsequenzen ziehen: entweder zu der Erkenntnis kommen, dass die geplante Handlung emotional zu belastend ist und bisher keine erfolgreiche Strategie im Umgang gefunden wurde oder zur Gewissheit gelangen, dass die neue Lebensaufgabe oder der Entwicklungsschritt gegangen werden kann und emotional tragbar ist.

Freud hat sich überwiegend mit solchen Prozessen auseinandergesetzt. Er hatte früh erkannt, dass der größte Teil unserer alltäglichen Handlungen, unseres Denkens und unseres Fühlens auf unbewussten Prozessen basiert. Vor allen Dingen der Bereich des Fühlens - des emotionalen Erlebens - hat er sich gewidmet. Er hat versucht, diese unbewussten Prozesse sichtbar zu machen, hat dafür Gedankenmodelle entworfen, die anfangs recht mechanistisch wirkten. Heute wissen wir von den unbewussten Prozessen und machen diese anhand von Traumdeutung, Fehlleistungen (Fehlhandlungen, Fehlgedanken, Falschaussagen etc.) und Beziehungsgestaltung sichtbar.

 

In diesem zweiten Teil meines Vortrages über das menschliche Versagen habe ich die Perspektive der Sinnhaftigkeit von Versagen und Scheitern um einen neuen Aspekt erweitert: Fehler machen, um emotional rechtzeitig und adäquat einer noch nicht bestehenden, aber möglichen Situation zu begegnen.