Seelische Störungen haben eine Funktion, einen Sinn, einen Zweck, eine Absicht

Oder auch eine Dysfunktion, also Fehlfunktion, weil das Ergebnis mit der Inkaufnahme von Beschwerden/Symptomen, ja durchaus schwerwiegenden Erkrankungen einhergeht. Dies werde ich im Folgenden erläutern.

Soweit ich weiß, habe ich diesen Gedankengang, dass psychische Störungen einen Sinn haben, in dieser Form noch nie so klar beschrieben. Nicht zuletzt spreche ich damit wieder einmal etwas an, was allgemein kein Kulturgut unserer Gesellschaft sein dürfte. Denn "Kranksein" (und damit sind nicht explizit nur körperliche Störungen oder Erkrankungen gemeint) wird hier zulande als einen ohne eigenes Verschulden entstandenen, bemitleidenswerten, unfreiwilligen und vor allem unerwünschten körperlichen, seelischen oder geistigen Zustand verstanden.

Ohne eigenes Verschulden? Nun, wer genauer hinsieht, entdeckt, dass viele, vielleicht sogar die meisten Erkrankungen "hausgemacht" sind. Ein Großteil der Herz-Kreislauf Erkrankungen wird durch zu fettreiche, wenig ballaststoffreiche Ernährung, durch fehlende körperliche Bewegung und Nikotinabusus hervorgerufen. Die Zuckerkrankheit ist häufig durch die o.g. Lebensweise bedingt, die COPD (chronisch verengende Bronchitis) durch so gut wie nur das Rauchen. Selbst das Bronchialkarzinom findet sich am häufigsten als Folge eines langjährigen Nikotinabusus.

Wenn ich denn nun das eigene Verschulden am eigenen Leid enttabuisiere, so werde ich dies auch hinsichtlich des angeblichen unfreiwilligen und unerwünschten Zustandes tun. Denn – wie ich schon in einem früheren Vortrag erwähnte – hat der Rentenversicherungsträger als einer der ersten Institutionen den Begriff des "sekundären Krankheitsgewinns" formuliert, was bedeutet, dass hinter einem Zustand einer seelischen Erkrankung auch eine Absicht stecken kann. Also lag somit schon vor Jahrzehnten ein in unserer Gesellschaft als Tabu zu bezeichnendes Thema auf dem Tisch. Umso erstaunlicher, dass dieses Thema dennoch ein Tabu in unserer Gesellschaft darstellt. Es findet m.E. keine Debatte über Menschen in unserem Land statt, die sich durch ihre Erkrankung bewusst oder unbewusst erhoffen, berentet bzw. aus dem Arbeitsleben herausgenommen zu werden. Und diese Zahl dürfte nach meiner Einschätzung groß sein.

Doch nun wieder zurück zu dem Sinn und der dahinter verborgenen Absicht seelischer Störungen.

Dazu folgender Gedankengang:

wir Ärzte und Psychologen pflegen die "Freud`sche" Kultur, dass jeder Erkrankung eine Ursache zugrunde liegt. Wir sprechen von Ätiologie. Befremdlich erscheint hingegen die Überlegung, dass eine Erkrankung nicht eine Ursache, sondern ein Ziel verfolgt, also intentional gedacht werden muss. (So dachte übrigens schon Alfred Adler, ein Mitschüler von Sigmund Freud. Während Freud die Psychoanalyse begründete, entwickelte Adler die Individualpsychologie). Heute wissen wir, dass Erkrankung nicht nur eine Ursache haben, sondern auch intentional gerichtet sein kann, insbesondere da, wo sie ihre psychosomatische oder psychische Natur offenbart. Grundlage bildet dabei das Wissen, dass das Handeln des Menschen immer motiviert ist, einer Absicht folgend. Diese Motivation kann bewusst, nahe bewusst oder unbewusst sein. Je ausgeprägter und unbeweglicher (wir sprechen in der Psychologie von "rigide") eine Person in ihrer Gewissensbildung (Über-Ich) ist, je mehr Tabu`s bestehen, um so mehr müssen insbesondere aggressive und sexuelle, gesellschaftlich "verwerfliche" Motivationen in das Unbewusste "abtauchen". In der Folge "weiß die rechte nicht, was die linke (Hand) tut."

 

Beispiele:

 

1)Eine Patientin kommt wegen Ängsten und Unruhe in die Praxis. Sie fühle sich niedergeschlagen und interessenlos nachdem sie erfahren hätte, dass ihr Sohn nach anfänglichem Erfolg den Schulabschluss doch nicht erreichen würde. Auf Nachfrage erfahre ich weiterhin, dass der Ehemann für die Patientin überraschenderweise in den Vorruhestand gehen und nun erwarten würde, dass die Ehepartner reisen und das Rentendasein genießen. Die Patientin wird in der Folge zunehmend depressiv, sucht die Ursache ihrer Beschwerden in der Vergangenheit und meint dort auch einen Grund gefunden zu haben. Doch es ändert sich nichts an ihrer Situation. Erst nachdem verständlich wird, dass die Patientin sich durch den Vorruhestand des Ehemannes und des nun notwendigen längeren Schulbesuches und damit der Abhängigkeit des Sohnes vom Elternhaus in ihrer so ersehnten Autonomie (Selbständigkeit) bedroht fühlt, ergibt sich ein rundes Bild: die Ängste und Depression dienen hier dem Zweck, die für die Patientin "verwerflichen Inhalte" (sich um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern, sich gegen den anderen zu stellen oder durchzusetzen) zu vergessen und die Angehörigen vor der Wut der Patientin (die sie als destruktiv phantasiert) über den drohenden Verlust der Autonomie zu schützen. Gleichzeitig sorgt die depressive Patientin auf diese Weise dafür, dass "man Rücksicht nimmt und Verständnis hat." Ihr ist ihre eigene Aggressivität, die dadurch kenntlich wird, dass der Ehemann nun nicht mit der Patientin reisen kann, er gar daran gehindert wird, nicht bewusst. Sie erreicht beim genauerem Hinsehen sogar ein Stück Autonomie, in dem ihr Partner sie "in Ruhe" lässt. Würde Sie sich des Konfliktes bewusst sein, würde sie ihre Wut äußern, kann sie davon ausgehen, dass es Auseinandersetzungen mit dem Partner und dem Sohn geben würde, in dessen Folge die Beziehung in Frage gestellt werden könnte.

 

2)Eine weitere Patientin stellt sich ebenfalls mit Symptomen einer Depression in der Praxis vor. Die Krankheitsgeschichte ergibt, dass der Beginn der Beschwerden noch gar nicht solange zurück liege. Nach mehreren Gesprächen wird der Auslöser der Patientin klar: der Ehemann sei in Rente gegangen. Dieser sei jemand, der von der Patientin verlangen würde, dass diese ihn bei allen geschäftlichen Angelegenheit zu begleiten wünscht. Der Patientin ist dies allerdings zuwider, sie interessiere sich nicht für dessen Geschäfte. Sie könne sich gegen seine Forderung, ihn zu begleiten, nicht wehren. Hier wird zum Zeitpunkt des Rentenbeginns die Depression notwendig, weil nun die Erwartung des Ehemannes an die Patientin ein Maß überschreitet, dass die Patientin nicht ertragen könne. Für die Patientin ist jedoch das Weigern so schuldbehaftet, dass sie depressiv werden muss. Durch die Depression erreicht sie dann das, was im vorigen Fall bereits beschrieben wurde: sie muss nun den Ehemann nicht mehr begleiten, weil dieser wegen der Depression von der Patientin nicht verlangen kann, dass sie ihm zur Seite steht. Die Depression ist quasi die Legitimation für die Weigerung.

 

3)Ein weiterer Patient klagt über Freud – und Lustlosigkeit, Antriebsarmut und Traurigkeit. Gleichzeitig bestehen Ängste. Aus der Krankheitsgeschichte wird früh ersichtlich, dass der Patient sich schlecht durchsetzen kann, ja sogar unterwürfig erscheint. Wenn die Partnerin etwas verlangen würde, setze er das mit Murren, aber auch sofort um. Auf die Frage, warum er sich nicht zur Wehr setzen würde, äußert er betrübt, dass ihm der Mut fehlen würde. Im Verlauf der Therapie werden alle Register gezogen, allerdings alles ohne Erfolg. Erst als klar wird, dass der Patient vor seinem eigenen Gewissen aufgrund massiver Schuldgefühle nicht aufbegehren darf, kommt eine böse Ahnung auf. Immer wieder zeigen sich nämlich Situationen, in denen er sich indirekt gegen die Forderung der Ehefrau stellt. So geht er mit der Tochter – obwohl von der Partnerin abgelehnt – aufgrund eines Sprachfehlers zur Logopädie. Aber nur dann, wenn die Frau aufgrund einer Dienstreise nicht anwesend ist. Die Erfolglosigkeit der Therapie findet schließlich genau darin ihre Ursache: die Partnerin hält nichts davon, dass der Patient sich regelmäßig psychotherapeutisch behandeln lässt. Der Patient braucht die Sitzungen unter dem Vorwand, dass er seine Depression und Ängste behandelt. Ihm ist nicht bewusst, dass er so sich gegen die Herrschaft der Frau stellt und aufbegehrt. Er kann hier mit "reinem Gewissen" seine wirklichen Motive leugnen. Als "Nebenbeieffekt" ärgert sich die Ehefrau, womit er sein Ziel, den Ärger über die Unterwerfung zu äußern, erreicht. ("Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut").

 

Haben Sie noch Fragen? Schreiben Sie mir!