Sie haben richtig gelesen. Herzlich willkommen. Paradoxien sind ein wichtiges Element der tiefenpsychologischen Psychotherapie. Aber auch ein großer Quell der Erkenntnis über unser Dasein, unser Leben. Die Vorlage für die Überschrift bot mir das Buch von Paul Watzlawik „vom Schlechten des Guten“. Hier also umgekehrt. Denn die Menschen, die zu mir in Behandlung kommen, kommen keineswegs freudig und in gehobener Stimmung in meine Praxis. Im Gegenteil: Sie leiden an Ängsten, Depressionen, Zwängen, autoaggressiven Tendenzen und vor allen Dingen an düsteren und pessimistischen Perspektiven. Kein lustvolles Leben, kein Lachen, keine Leichtigkeit, weder Hingabe noch mutvoller Aufbruch. Anhedonie beschreibt die Unfähigkeit, Glück zu empfinden und ist eins der meisten geäußerten Symptome der Menschen, die in ihrem Unglücklichsein zu mir kommen und Hilfe suchen. Und dann das. Ich konfrontiere diese Menschen, quasi aus der Hüfte geschossen, irgendwann, was sie darüber denken würden, welchen Gewinn bzw. welchen Vorteil sie sich vorstellen könnten, die diese Symptomatik hätte. Je nach Reaktion fliegen mir dann Verwunderung, Empörung, Irritation und/oder Verärgerung entgegen. Denn warum suchten sie mich denn dann auf, wenn ihre Beschwerden, Klagen und trüben Gedanken einen Gewinn bringen würden. Nun bin ich wieder an der Reihe. Und jetzt kommt eine Antwort, mit der die meisten nicht rechnen. Es ist ja nicht per se das Beschwerdebild, heißt, die Niedergeschlagen-heit, die Traurigkeit, der Rückenschmerz, die Angst, sondern das Festhalten an den Symptomen. Jeder kennt Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Rückenschmerz, Angst, aber ist ja dadurch nicht gleich krank, vor allen Dingen nicht seelisch krank. Denn jeder weiß, der auf diesem Planeten lebt, das jedem Regen irgendwann Sonnenschein folgt, und der Dunkelheit das Sonnenlicht. Also sind die meisten geäußerten Symptome den Menschen landläufig bekannt. Was die seelisch Kranken jedoch von den Gesunden unterscheidet, muss folgerichtig etwas anderes sein. Und an dieser Stelle behaupte ich, ist es das Festhalten. Aber warum sollten die Menschen an diesen Symptomen festhalten, wenn es doch so offensichtlich ist, dass sie darunter leiden, klagen und sich manchmal sogar das Leben nehmen?

Tiefenpsychologie setzt sich mit dem Unbewussten auseinander. Vereinfacht formuliert, mit dem, was ursprünglich mal bewusst, aber im Laufe der frühen Kindheit ins Unbewusste verschoben wurde. Dabei handelt es sich um immer wiederkehrende Erfahrungen und Erlebnisse und die darauf basierenden Annahmen oder Glaubenssätze über diese Welt. Sie müssen sich diesen Prozess wie beim Fahrradfahren, Schwimmen oder Autofahren lernen vorstellen. Anfangs müssen sie noch viele Dinge (Arme, Beine, Körperhaltung, Gleichgewicht usw.) bewusst koordinieren, nach ausreichendem Training verschwenden sie noch nicht mal einen Gedanken daran, wie sie aufs Fahrrad steigen, mit dem Auto rückwärts fahren, sich im Wasser bewegen. Die Abstimmung von Muskelspannung, Aktivierung der Muskelgruppen, der Körperhaltung und des Gleichgewichts, der Aktivierung der Sinne sind „in Fleisch und Blut übergegangen“, ins Unbewusste verlagert worden, da es in unserer Evolution sich als Vorteil ergeben hat, regelmäßige, sich wiederholende Dinge an einem anderen Ort des Gehirns zu speichern, um „den Kopf frei zu haben“. 90-95 % unseres alltäglichen Lebens läuft so über unseren unbewussten Prozessor, so dass wir unser Bewusstsein auf akute Probleme lenken können.

Was müssen Sie noch wissen, um die Frage, die ich eingangs gestellt habe, zu verstehen? Unser Hirn funktioniert so, dass es eine einmal eingeschlagenen Richtung bei Lösung eines Problems, heißt Strategie, gern als meist die einzige meint, die damals und heute richtig ist. Dabei sind wir häufig Opfer einer Amnesie. Denn, wie sich häufig später im Rahmen der Psychotherapie herausstellt, war die Strategie keineswegs erfolgreich. Sie war auch häufig nicht nur die einzig mögliche, sondern auch noch retrospektiv wenig zielführend. So bemüht sich so manch ungeliebt erlebtes Kind diesen Mangel durch Aufmerksamkeitslenkung des Erwachsenen wettzumachen. Ein Kind allerdings, was sich dann verstärkt um Aufmerksamkeit bemüht, indem es zum Beispiel vermehrt quengelt, erreicht meist genau das Gegenteil. Auf das Leben des Erwachsenen bezogen, bemüht sich zum Beispiel manch Angestellter um mehr Wertschätzung durch seinen Vorgesetzten. Was macht er? Er verstärkt seine Bemühungen. Ganz davon abhängig, ob der Vorgesetzte diese Bemühungen auch erkennt, erlebt häufig der Angestellte seine Bemühungen als wenig erfolgreich. Doch was macht er nun? Er verstärkt seine Bemühungen weiter! Und dies, obwohl er bereits erkennt, dass die erwartete Resonanz nicht eintritt. Schließlich kann dies so weit führen, dass der Vorgesetzte den Angestellten als süchtig nach Lob und Anerkennung erlebt oder gar quengelich. Die Folge: der Vorgesetzte wirkt gereizt, vielleicht gar ärgerlich und-was jetzt wesentlich ist-er wendet sich von dem Angestellten ab. D.h. in letzter Konsequenz führt die Strategie des Angestellten mit dem Ziel mehr Anerkennung zu erhalten genau ins Gegenteil.

Auf den Menschen mit der seelischen Störung heruntergebrochen, bedeutet dies, dass er unbewusst eine bestimmte Strategie verfolgt, die er als Kind meinte, als die einzig sinnvolle und mögliche zu deklarieren und heute als Erwachsener denkt, anwenden zu müssen. Die Antwort auf die Frage, welchen Gewinn sie sich vorstellen könnten, die diese Symptomatik hätte, spannt also den Bogen von dem Hier und Jetzt hinüber in die frühe Kindheit, wo der Ursprung der gewählten Strategie zu finden sein dürfte. Sie geht dabei grundsätzlich von einer Absicht aus, dass Seele sich zeigen möchte und gern den Körper als Vehikel dafür verwendet (denken Sie zum Beispiel an die Angstäquivalente wie Schwindel, Ohnmachtsgefühl, Schweißausbrüche, Herzklopfen oder trockener Mund oder bei Depressionen Kraftlosigkeit, Appetitlosigkeit, Frieren usw.).

 

Die Frage nach dem Guten des Schlechten hat also folgenden Sinn: Sie offenbart mir gleich mehrere Fähigkeiten des Klienten. Die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten (Ambivalenztoleranz). Die Fähigkeit, „über den Tellerrand hinaus zu denken“ und zu erkennen, dass die seelische Störung mit ihrem Ausdruck etwas in ihm und in der Umgebung bewirkt (Selbstreflexion). Die Fähigkeit, eine Strategie im Erscheinungsbild der Störung wahrzunehmen (Eigene Motive). Die Fähigkeit, einen, wenn auch nur geringen, Vorteil/Gewinn zu fantasieren. Die Fähigkeit, nicht gleich zu werten (Impulstoleranz). Die Fähigkeit, Distanz zum Gemachten herzustellen (Innere Bindung). Die Fähigkeit, durch die Brille des Kindes zu schauen und die eigene Not zu erkennen (Identifikation). Die Fähigkeit des Erwachsenen-Ich mit der Not des Kindheits-Ich umzugehen. Die Fähigkeit, die aus der Störung ableitbaren Erwartungen an die Umgebung sich vorzustellen.

 

Anmerkung:

Kindheits-Ich = Inneres Kind

Erwachsenen-Ich = Heutiges Erwachsenenbewusstsein