Den Weg, den die Medizin augenblicklich beschreitet, ist meiner Erachtens völlig falsch: statt den Blick für das Ganze im Auge zu behalten, den Menschen im Fokus zu haben, "verzettelt" sich dieseMedizin in immer mehr "Kleinigkeiten", in den Genen und der feingeweblichen Struktur.


Der Mensch steht seit langem schon nicht mehr im Mittelpunkt, woraus der Wunsch von verschiedenen Seiten entsprang, eine "ganzheitliche" Medizin zu schaffen. Die Realität ist eine andere. Im Gegenteil: selbst die, die eine ganzheitliche Medizin propagieren, neigen dazu, diesen Begriff als Modewort zu missbrauchen.

Von Uexküll (ein Psychosomatiker) beschreibt die Ganzheitlichkeit des Menschen als Summe seiner biopsychosozialen Wirklichkeiten. Hand aufs Herz: Biologisch denken die meisten Ärzte, und da kommen die meisten Menschen noch halbwegs gedanklich mit. Aber wem sagt Psyche schon etwas? Für Ärzte ist es auch einfach, biologisch zu denken, weil diese Herangehensweise schon im Studium gelehrt worden ist. Den Menschen braucht die Medizin eigentlich auch nicht in dieser Denkweise, weil sowieso alles chemisch und physikalisch erklärbar ist. Eine Medizin also fernab vom Menschen? Mancher Patient ist dieser Tage schockiert, wie fremd die Medizin für ihn geworden ist. Insbesondere in den Krankenhäusern interessieren in erster Linie "Fälle", wobei ich denke, dass dies selbst übertrieben ist. Eher Krankheiten oder Veränderungen an der Struktur. Wenn es selbst da keine Erklärung für den krankhaften Zustand eines Menschen gibt, dann ist die Biologie am Ende ihrer Erklärung oder der Patient "hat nichts".

Auch in der Praxis: interessieren tun die Kranken, nicht die Gesunden. Warum? Unser Kassensystem belohnt jeden Arzt und jede Krankenkasse, die einen Patienten in ein Programm einschreibt, z.B. DMP (Disease management program). Dadurch wird die Gesellschaft kranker gemacht als eigentlich ist. Und das empfindet der Patient berechtigt als fremd. Aber wie sieht es nun aus in Bezug auf die Psyche, gar die soziale Wirklichkeit des Menschen?
Diese Themen werden gern von Ärzten ausgeblendet, es sei denn sie spielen z.B. für die Entwicklung einer Herzgefäßerkrankung eine Rolle.
Mit diesen Dingen hat die Medizin tatsächlich wenig am Hut. Darum liegen immer noch Welten zwischen dem rein somatisch tätigen Arzt und dem Psychotherapeuten. Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig die Medizin mit dem Menschen in diesem Bezug zusammenarbeitet. Es gibt so viele erstaunliche Phänomene, dass deren Ausblendung schon fast einem Kunstfehler gleicht.

Beispiel:

Regelhaft finden sich bei Patienten mit symptomatischen
Bandscheibenvorfall psychosoziale Belastungssituationen, die für sie nicht mehr "zu tragen" sind. Um biopsychosozial zu handeln, wäre allerdings auch die Konfrontation des Menschen mit seiner Lebenssituation Bedingung. Meine Erfahrung zeigt, dass Patienten erstaunlich offen für solche Themen sind, wenn ich sie danach frage. Frage ich sie nicht, geht mir ein wichtiger diagnostischer Baustein verloren. Für viele zeigt sich gerade im psychosozialen Arrangement das Ausmaß der "Katastrophe", die der Bandscheibenvorfall für den Menschen ja auch ist. Rein biologisch gesehen,
stehen beim Bandscheibenvorfall die Operation und anschließend Physiotherapie und Rehabilitation im Vordergrund, die dem Menschen schnell Erleichterung bringen sollen. Allerdings werden sie dem Patienten deshalb nie gerecht, weil der psychosoziale Aspekt nicht integriert ist. Bei der Besserung der Beschwerden nach Operation fehlen m.E. zwei Punkte in der Diskussion um die Sinnhaftigkeit von Therapiemaßnahmen:

  • durch die Operation und den Beschwerden des Patienten ist er legitimiert, sich zu schonen (was dem sozialen Umfeld signalisiert, Rücksicht zu nehmen und nicht mehr zu fordern), was schon eine Besserung bewirkt. Dies nennen wir Ärzte auch "sekundären Krankheitsgewinn".
  • Wie bei allen Operationen ist ein nicht unbeträchtlicher Anteil Placebo Effekt. Diesen können wir am besten an der Nachhaltigkeit der Operation erkennen, eine zeitliche Begrenztheit ist für den Placeboeffekt zwar bekannt, wie lange er anhält, ist allerdings nicht vollständig erforscht. Ich gehe davon aus, dass dies auch vom Patienten abhängt. Der Placeboeffekt hat auch eine Besserung der Beschwerden zur Folge.

Der Gesetzgeber ist sich der Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Therapiemaßnahmen (nicht nur bei Bandscheibenvorfall) bewusst und hat nicht umsonst dazu aufgerufen, Operationen in Frage zustellen und eine Zweitmeinung einzuholen.

Doch liegt es allein an der Medizin, dass sie sich so verzettelt? Gewiss nicht, bei genauerer Betrachtung zeigt sich in ihr auch das Abbild der Gesellschaft. Diese braucht ein mechanistisches Weltbild und Verständnis. Alles muss mittels Technik erforscht und in seine Einzelteile zerlegt werden. Noch nie war der Einsatz von Geräten in der Medizin so häufig und intensiv wie heute (CT, MRT, Gastro – und Coloskopie etc.). Noch nie war der GLAUBE auch an diese Technik so groß wie heute. Ja, der Arzt muss sich schon manchem Patienten gegenüber rechtfertigen, weshalb er gewissen Veränderungen im CT oder MRT keine Beachtung schenkt.
Die Technik Gläubigkeit kennen wir auch in Bezug auf Auto, Schiff, Flugzeug usw. Dies führt mich zur Annahme, dass ursächlich für diese "Verblendung" (der Glaube an die Unfehlbarkeit der Technik) das stetig wachsende Sicherheitsbedürfnis der Menschen darstellt. Und tatsächlich besteht
hier ein Denkfehler. Eine 100% Sicherheit gibt es nicht. Weder in der Medizin noch in der Technik. Doch dieses Wissen führt bei Menschen regelmäßig dazu, alles zu unternehmen, noch sicherer zu werden. So ist es nicht verwunderlich, dass Versicherungen in unserer Gesellschaft mit zu den
erfolgreichsten Unternehmen zählen.

Doch zurück zum Thema: Unsere Gesellschaft scheint also auf einem Auge blind zu sein. Sie kennt zwar die 5 Sinne (Riechen, Hören, Sehen, Fühlen, Schmecken), setzt allerdings im Zweifel nur auf einen: das Sehen (vgl. die Geschichte aus der Bibel mit dem "ungläubigen Thomas"). Resultat:
Wahrnehmung eingeschränkt! Und dies zeigt es ganz deutlich: Trotz eines immensen Psychotherapeutenbedarfs seit Jahren (so einen hohen Bedarf gab es in der gesamten Geschichte Deutschlands noch nicht) wird alles, was mit "Psyche" zu tun hat, abgetan oder hinter einer Scham versteckt. Und es wird nicht selten dem Arzt eine verquere Wahrnehmung vorgeworfen, wenn er nach den privaten Umständen fragt und dazu noch kritisch.

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