Wer ausgebrannt ist – so suggeriert es der Begriff "Burn-out" – muss folglich über die Maßen gearbeiten, geheizt ("gepowert") haben oder verheizt worden sein. Denn schließlich könne nur jemand, der physisch, geistig oder emotional über seine Arbeitskräfte hinaus leiste, ein "Recht haben", ausgebrannt zu sein.

Diese gesellschaftliche Lüge – wie ich dies Phänomen beschreiben möchte – ist eng gekoppelt an das Leistungsdenken unserer Gesellschaft.

Diese Lüge wird aber dadurch als solche entarnt, da sie an mehreren Punkten mit der Realität zusammenstößt:

1)Hausfrauen/Hausmänner und Arbeitslose können auch an Burn-out leiden

2)Burn-out bezieht sich nicht nur auf die Arbeitswelt (wie in den skandinavischen Ländern gedacht wird), sondern auch auf das Privatleben

3)sie unterstellt, dass hier noch keine Erkrankung vorliegt, obwohl die meisten der Betroffenen leiden und einer dringenden psychischen Behandlung bedürfen (es ist prognostisch davon auszugehen, dass sich in nicht so ferner Zukunft ein eigenes öffentlich anerkanntes Krankheitsbild etabliert)

4)sie ist nur ein "Reframing" (Neuumrahmung) des Begriffes "Überforderung". Diesen gibt es demnach nicht mehr, es wird nur noch von Herausforderung gesprochen. Demnach ist das Individuum "nicht ausreichend an die Umwelt angepasst", wenn es diese Herausforderung nicht meistert. Dieser Gedanke erinnert stark an Charles Darwin.

Der Leistungsgedanke

Es ist nicht verwunderlich, dass mittlerweile bestimmten Berufsgruppen sogar ein "Recht" auf Burn-out zugesprochen wird, anderen (s.o.) hingegen nicht. Zu diesen Berufsgruppen zählen Berufe der IT Branche, des Banken- und Investmentwesens und die Ärzteschaft etc. Diese -so erlebt es die Bevölkerung- leisten "unheimlich viel" für sie, etwas, was uns übrigens auch durch die Medien weißgemacht wird!

Außerdem habe ich den Eindruck, dass es auch zum "guten Ton" in unserer Gesellschaft gehört, überarbeitet zu sein. Denn es zeigt gleichzeitig der Konkurrenz, wie sehr das Individuum bereit ist, über seine Grenzen hinauszugehen und "Muskeln" zu zeigen. Es ist deswegen nicht verwunderlich, dass gerade diese eben genannten Berufsgruppen (sie machen etwa 17% unserer Gesellschaft aus) den Ton angeben und für andere (Berufe) die Hürden höher legen. Selbst in Film und Fernsehen ist diese "Hochleistungsidee" seit längerem etabliert: In Szenen wird der Vater so dargestellt, dass er "wiedermal" abends zu spät von der Arbeit kommt aufgrund vieler "wichtiger" Termine in einem "hochangesehenen Beruf" und dabei noch unglaublich vital wirkt! Daraus lässt sich schlussfolgern, dass unsere Medien keinen unbeträchtlichen Anteil an der Verbreitung der gesellschaftlichen Lüge des "unendlich leistungsfähigen" Individuums haben (s. auch Werbung). Hinzu tritt die Illusion des "work life balance", eine missbrauchte Beschreibung dessen, was wir für ein "gutes" und lebenswertes Leben halten und was uns diese Medien "vormachen". Real ist dies nicht: außerordentliche Leistung im Beruf, außerordentliche Leistungen im Privaten – irreal. "Natürlich und authentisch sein" ist nicht mehr gefragt. Denn das verbinden wir mit "Schwäche zeigen", "Versagen", "Verletzbarkeit" und ist hoch schambehaftet.

Und die Hürden werden aber nicht nur im Beruf, sondern auch in der Freizeit höher gelegt: es ist deswegen auch nicht verwunderlich, dass die Fitnessbranche -ärgerlicherweise auch oft durch "gutgemeinten" ärztlichen Rat- boomt. Anstatt langsamer zu treten und seine Grenzen zu akzeptieren, zeigt sich, dass selbst in der Entspannungindustrie der Leistungsgedanke Einzug hält ("Poweryoga").

Nun aber, warum bekommt jemand Burn-out, der andere nicht?

Hier spielen viele Faktoren eine Rolle:

1)genetischen Ressourcen (z.B. Emotionale Widerstandskraft) -auch als Resilienz bezeichnet- spielen eine bedeutende Rolle

2)Ressourcen im privaten und/oder beruflichen Bereich: fehlen diese, ist das bereits ein wichtiges Kriterium bei der Ausbildung von Burn-out (Ressourcen können sein: privat z.B. Familie, Glaube, Hobby, Sport – beruflich z.B. Ansehen, eine gewünschte Position/Stellung, Zusammenarbeit)

3)psychische Erkrankungen wie strukturelle Störungen, Persönlichkeitsstörungen aber auch schwere neurotische Erkrankungen (z.B. Ängste, Depressionen) predistinieren zum Burn-out. Hier bestehen gewiss auch Übergänge zu anderen psychischen Erkrankungen (z.B. Psychosomatik)

4)Je unklarer das Ergebnis oder die Konsequenzen einer beruflichen Tätigkeit des Einzelnen sind, um so eher tritt ein Burn-out auf

5)Je unpersönlicher das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist (z.B. In großen Betrieben), um so wahrscheinlicher tritt ein Burn-out auf

-> Punkt 5 + 6 ist eng mit der Frage der Sinnhaftigkeit der beruflichen Tätigkeit verknüpft.

Meines Erachtens geht es hier um einen "Sinn im Ganzen". Im 21 Jahrhundert, wo die Menschen "aufgeklärt" sind und Religion nur noch für wenige eine Rolle spielt, sucht der moderne Mensch nach seiner Bedeutung in der Welt. Die Sinnsuche ist bei vielen frustran, deshalb sind "surrogate" wie etwa Extremsport so "in".

Was ist also zu tun?

In erster Linie ist eine Standortbestimmung sinnvoll und notwendig: wo stehe ich, wie zufrieden bin ich damit, welchen Ausgleich habe ich, worauf kann ich notfalls zurückgreifen, wenn der "Kessel" dampft?

Je mehr Risiko-Faktoren (der o.g.) zutreffen, um so eher ist die Frage, wie können auch Ressourcen wieder aufgebaut werden und ob bereits eine handfeste Erkrankung besteht. Dann sollte eine Psychotherapie diskutiert werden.

Was auf jedenfall keinen Sinn hat, sind Vitaminkuren, Infusionen etc. Diese Maßnahmen führen eher zur irrigen Vorstellung, das Ganze sei eine körperliche Erkrankung.

P.S.:

Und noch eine Erkenntnis: die Anzahl der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeitstage deutscher Arbeitnehmer hat zwar abgenommen, gleichzeitig zeigt sich jedoch eine Zunahme psychischer Erkrankungen. Mit Besorgnis reagieren deswegen die Versicherer einschließlich der Rentenversicherungsträger. Die Mitteilung einer psychischen Diagnose ist häufig ein Ausschlusskriterium für eine Lebensversicherung!